Auf das eidgenössische Schützenfest

[196] 1872


Im Laube weht der Sommerwind

Und über das Halmenmeer,

Da naht mit ihrem Festgesind

Die Fahne Freudenschwer;

Da wallt das Völklein Wohlgetan,

Der Schalk zieht mit dem Biedermann

Froh hinter ihr einher.


Halt! Steckt das Banner auf den Turm:

Hie Schweizerland zehn Tag,

Zehn Tage lang Gemütersturm

Und Vaterlandsgelag!

Doch in der Brandung lautem Spiel

Sucht still der Schütz sein altes Ziel,

Der Schütz vom alten Schlag.


Ihr andern aber heuchelt nicht

Und gebt euch, wie ihr seid,

Und eh das Herz vor Schweigen bricht,[196]

Verkündet euer Leid!

Der Weise spreche warm erregt,

Der Schwätzer schwatze tief bewegt

In seinem Narrenkleid!.


Und zürnt ihr, sei die Hand geballt

Von echtem Freundeszorn:

Sie öffnet sich, sobald erschallt

Das alte Wunderhorn!

Wir dürsten all nach einem Trank

Und baden alle, wenn wir krank,

Im einen klaren Born!


Die Freiheit gibt sich nicht in Pacht,

Sie folgt nicht einem Mann

Und hat noch immer den verlacht,

Der sie zu fangen sann,

Das einz'ge Weib, dem gut es steht,

Wenn es mit tausend Männern geht,

Vertraut in Ring und Bann.


Die wilden Rosen auf dem Hut,

Läßt sie die Augen gehn;

Dann braust verwirrt der Männer Blut,

Daß sie sie doppelt sehn.1

Und wie das Volk im Streite ringt,

Sie ordnend ihre Fahne schwingt

Und läßt's im Reihn sich drehn.


Nun seid gegrüßet Mann für Mann,

Die Festfanfare schallt![197]

Nun treib es jeder, wie er's kann,

Ein Rufer in den Wald!

Getrost vergeßt des Tages Not,

Bis daß im zehnten Abendrot

Der letzte Schuß verhallt!


Fußnoten

1 Das Land war zurzeit durch die politischen Gegensätze namentlich des Föderalismus und Zentralismus bei Erneuerung der Bundesverfassung aufgeregt, sowie durch die Fragen der Beseitigung der konfessionellen Schranken im bürgerlichen Leben.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 196-198.
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