Sehnsucht nach dem Frühlinge

[168] Verlange nur nicht allzusehr

Des holden Frühlings Wiederkehr!

Bald wird er, unter jungen Rosen,

Den Grazien liebkosen,

Und im belaubten Hayn

Bey Nymphen und Cytheren seyn.
[168]

Des Winters trauriges Gewand

Deckt noch die Wälder, noch das Land:

Doch Phöbus jagt die raschen Pferde

Schon näher an der Erde,

Durch eine steilre Bahn,

Des Himmels rund Gewölb hinan.


Auf schnellem Wagen ist er schon

Dem wilden Capricorn entflohn;

Und von den schwarzen Stürmen schwellen

Die aufgebrachten Wellen:

Der Winde kämpfend Heer

Fällt rasend aufs gestäupte Meer.


Weh ihm, wenn sich der Handelsmann

Zur Heimreis' ietzt entschließen kann,

Bereichert mit Aegyptens Waaren

Der Creter Meer durchfahren,

Und kühn dem Africus

Auf schwachem Schiffe trotzen muß!


Die junge Gattinn harrt am Strand,

Wo ihr Geliebter ihr verschwand,

Und herzt den Sohn mit bangem Sehnen,

Den unter süssen Thränen

An ihrer Brust sie nährt,

Und ein Willkommen stammeln lehrt.


Umsonst! Kein Gott erhört ihr Flehn!

Sie wird ihn, ach! nicht wieder sehn.

Er wird, in tiefer See begraben,

Die giergen Fische laben:

Denn die erzürnte Fluth

Verschlingt lautbrüllend Schiff und Gut.
[169]

Du aber, wann ein sanfter West

Nun durch die ersten Veilchen bläst,

Verweile nicht, dich zu entschließen,

Und Tage zu genießen,

Die uns die karge Zeit

Nur wenig, wenig Monden leiht!


Der Mensch verfolgt mit starrem Blick

Ein ihm entfliehend lächelnd Glück:

Er jammert um versagte Freuden.

Erst wann sie flüchtig scheiden,

Erkennt und schätzt er sie:

Doch, was er hat, genießt er nie.

Quelle:
Johann Peter Uz: Sämtliche poetische Werke, Stuttgart 1890, S. 168-170.
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Sämtliche poetische Werke
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