6. Am 18. Oktober 1816

[69] Wenn heut ein Geist herniederstiege,

Zugleich ein Sänger und ein Held,

Ein solcher, der im heil'gen Kriege

Gefallen auf dem Siegesfeld,

Der sänge wohl auf deutscher Erde

Ein scharfes Lied, wie Schwertesstreich,

Nicht so, wie ich es künden werde,

Nein! himmelskräftig, donnergleich:


»Man sprach einmal von Festgeläute,

Man sprach von einem Feuermeer,

Doch was das große Fest bedeute,

Weiß es denn jetzt noch irgendwer?

Wohl müssen Geister niedersteigen,

Von heil'gem Eifer aufgeregt,

Und ihre Wundenmale zeigen,

Daß ihr darein die Finger legt.


Ihr Fürsten! seid zuerst befraget:

Vergaßt ihr jenen Tag der Schlacht,

An dem ihr auf den Knieen laget

Und huldigtet der höhern Macht?

Wenn eure Schmach die Völker lösten,

Wenn ihre Treue sie erprobt,

So ist's an euch, nicht zu vertrösten,

Zu leisten jetzt, was ihr gelobt.


Ihr Völker! die ihr viel gelitten,

Vergaßt auch ihr den schwülen Tag?

Das Herrlichste, was ihr erstritten,

Wie kommt's, daß es nicht frommen mag?

Zermalmt habt ihr die fremden Horden,

Doch innen hat sich nichts gehellt,[69]

Und Freie seid ihr nicht geworden,

Wenn ihr das Recht nicht festgestellt.


Ihr Weisen! muß man euch berichten,

Die ihr doch alles wissen wollt,

Wie die Einfältigen und Schlichten

Für klares Recht ihr Blut gezollt?

Meint ihr, daß in den heißen Gluten

Die Zeit, ein Phönix, sich erneut,

Nur um die Eier auszubruten,

Die ihr geschäftig unterstreut?


Ihr Fürstenrät' und Hofmarschälle

Mit trübem Stern auf kalter Brust,

Die ihr vom Kampf um Leipzigs Wälle

Wohl gar bis heute nichts gewußt,

Vernehmt! an diesem heut'gen Tage

Hielt Gott der Herr ein groß Gericht.

– Ihr aber hört nicht, was ich sage,

Ihr glaubt an Geisterstimmen nicht.


Was ich gesollt, hab ich gesungen,

Und wieder schwing ich mich empor,

Was meinem Blick sich aufgedrungen,

Verkünd ich dort dem sel'gen Chor:

Nicht rühmen kann ich, nicht verdammen,

Untröstlich ist's noch allerwärts,

Doch sah ich manches Auge flammen,

Und klopfen hört ich manches Herz.«


Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 69-70.
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