Gesang der Jünglinge

[14] Heilig ist die Jugendzeit!

Treten wir in Tempelhallen,

Wo in düstrer Einsamkeit[14]

Dumpf die Tritte widerschallen!

Edler Geist des Ernstes soll

Sich in Jünglingsseelen senken,

Jede still und andachtsvoll

Ihrer heil'gen Kraft gedenken.


Gehn wir ins Gefild hervor,

Das sich stolz dem Himmel zeiget,

Der so feierlich empor

Überm Erdenfrühling steiget!

Eine Welt voll Fruchtbarkeit

Wird aus dieser Blüte brechen.

Heilig ist die Frühlingszeit,

Soll an Jünglingsseelen sprechen!


Fasset die Pokale nur!

Seht ihr nicht so purpurn blinken

Blut der üppigen Natur?

Laßt uns hohen Mutes trinken!

Daß sich eine Feuerkraft

Selig in der andern fühle.

Heilig ist der Rebensaft,

Ist des Jugendschwungs Gespiele!


Seht das holde Mädchen hier!

Sie entfaltet sich im Spiele;

Eine Welt erblüht in ihr

Zarter, himmlischer Gefühle.

Sie gedeiht im Sonnenschein,

Unsre Kraft in Sturm und Regen.

Heilig soll das Mädchen sein,

Denn wir reifen uns entgegen!


Darum geht in Tempel ein,

Edeln Ernst in euch zu saugen;

Stärkt an Frühling euch und Wein,

Sonnet euch an schönen Augen!

Jugend, Frühling, Festpokal,

Mädchen in der holden Blüte,

Heilig sei'n sie allzumal

Unsrem ernsteren Gemüte!
[15]

Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 14-16.
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