Das Wiedersehen

[264] Du heimatliches Tal,

Mir wird so wohl und wehe,

Daß ich dich nun einmal,

Ersehntes! wiedersehe.


Weinberg, sei mir gegrüßt!

Noch grünen deine Reben,

Womit du oft versüßt

Ein herbes Menschenleben;


Viel Herbste schwanden dir,

Die deine Trauben reiften,

Und die vom Herzen mir

So manche Hoffnung streiften.


Noch kenn ich jeden Baum,

Wo ich vor so viel Jahren

Gehegt den Jugendtraum,

Der scheu dahingefahren.[264]


Noch kenn ich jedes Haus;

Doch andre Menschen schreiten

Geschäftig ein und aus,

Als wie zu meinen Zeiten.


Ich frage dort und hier

Nach einem Freund mit Zagen

Und Furcht, ich könnte schier

Nach einem Toten fragen.


Es ist nur noch der Ort,

Wo wir gefreut uns haben,

Die Lieben all sind fort,

Verreiset und begraben.


Drum bleib ich hier nicht lang,

Mich fühlend zu verlassen,

Und tu auch keinen Gang

Bei Tag mehr durch die Straßen.


Erst wenn es worden Nacht

Und schläft des Tags Gebrause,

Schleich ich heran mich sacht

Zu manchem Freundeshause.


Die süße Träumerei

Such ich dann festzuhalten,

Als ob doch alles sei

Geblieben hier beim alten.


Zum Fenster dann empor

Blick ich und lausch und grüße,

Ob mich, den ich verlor,

Der Freund erblicken müsse;


Ich lausch und scheide nicht,

Bis ich zu schauen meine

Sein liebes Angesicht

Im wirren Mondenscheine.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 264-265.
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