Gewitter im Mai

[41] In Blüten schwamm das Frühlingsland,

Es wogte weiß in schwüler Ruh;

Der dunkle feuchte Himmel band

Mir schwer die feuchten Augen zu.


Voll Reu und Leid hatt ich den Mai

Gegrüßt und seinen bunten Flor;

Nun zog er mir im Schlaf vorbei,

Verträumt von dem vergrämten Tor!


Da war ein Donnerschlag geschehn,

Ein einziger; den Berg entlang

Hört ich Erwachender vergehn

Erschrocken seinen letzten Klang:
[41]

»Steh auf! steh auf! entraffe dich

Der trägen, tatenlosen Reu!«

Durch Tal und Herz ein Schauer strich,

Das Leben blühte frisch und neu.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 41-42.
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