1. Vor einem Luftschlosse

[16] Schöne Bürgerin, sieh, der Mai

Flutet um deine Fenster!

Alle Seelen sind nun frei,

Und es zerfließen der Tyrannei

Grämliche Gespenster!


In die Tiefe tauche kühn,

Ewige Jugend zu werben,

Wo die Bäume des Lebens blühn

Und die Augen wie Sterne glühn;

Droben bei dir ist Sterben!


Löse der Krone güldenen Glanz

Aus den Lockenringen!

Wirf sie herab! im klingenden Tanz

Einen duftigen Rosenkranz

Wollen wir froh dir schlingen!


Fühle, du Engel, dies heilige Wehn,

Das allmächtige Treiben!

Ja, dein Himmel wird untergehn

Und ein schönerer auferstehn –

Willst du ein Engel bleiben?
[16]

Nicht wie Luna in schweigender Nacht

Küßte den träumenden Schläfer;

Komm, wenn der sonnige Tag uns lacht,

Daß das alte Lied erwacht:

Königstochter und Schäfer!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 16-17.
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