Am Himmelfahrtstage 1846

[10] Mit den ersten Gedichten


Ausgestorben scheint die Stadt,

Weil, was sich des Lebens freut

Und den Bund mit ihm erneut,

Sich hinaus begeben hat

Auf die Hügel, auf die Berge;

Angefüllt wird jedes Tal,

Rühren muß sich Wirt und Ferge

In dem warmen Maienstrahl.


Von dem höchsten Giebel schau

Ich hinaus, o welch Gewimmel!

Ja, die Erde trägt gen Himmel

Menschenherz und grüne Au!

Und wie ferne Kirchenfahnen

Flattert's von der Burg Geländern

Bunt von seidnen Lenzgewändern

Unter grünenden Platanen.


Einsam wehen hier die Linden

Dieser Stadt um stille Dächer –

Ach, wie einen leeren Becher

Muß ich die verlaßne finden,

Einen Becher, dessen Schein

Wird geflohn von jedem Munde

Und auf dessen dunklem Grunde

Ich der letzte Tropfen Wein!


In die kühle Dämmernacht

Meines Hauses steig ich nieder,

Wo mir meine jungen Lieder[11]

Schlummern, bis ihr Tag erwacht;

Wo ein Strauß von Fliederzweigen

Drüber nickt mit stillem Neigen,

Mit erwartungsvollem Schweigen

Wilde Röschen halten Wacht.


Nun in tiefer Einsamkeit

Schreib ich, eh für immer schied

Mir die lange Morgenzeit,

Meiner Jugend letztes Lied;

Und der Hoffnung sei's geweiht!

Was ich hoffe, hofft die Welt;

Ist sie nur zur Fahrt bereit,

Wird sie selbst ihr Himmelszelt!


Tu dich auf, o schöner Schrein,

Lasse deine Schätze funkeln!

Laß sie, blitzend hell, verdunkeln

Der Martyrer blaß Gebein! –

Weihrauch sind die Frühlingsdüfte,

Und auch du, mein Schwalbenzug,

Flattre, leichter Liederflug,

Aufwärts in die freien Lüfte!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 10-12.
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