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[19] Rauh geht der Nord, es dunkelt allerenden;

Jetzt eben hinter jenen Wolkenwänden,

Dort muß die Sonne untergehn;

Dort ist's nun abendklar und goldenhelle,

Dort sind nun Lilie, Rosenhag und Quelle

Im einen seligroten Glanz zu sehn!


Hier aber ist ein kaltes Wehn und Brausen,

In dunkler Luft die scheuen Wälder sausen,

Die Bäche toben durchs Gestein.

Dicht auf der Heide kühle Winde streichen,

Asketisch beugen sich die ernsten Eichen,

Die Nacht wankt finster in das Land herein.


Ich kenne kaum den Grund zu meinen Füßen,

Doch hör ich schon die Regenströme gießen,

Es weint das tiefverhüllte Land.

In meinem Herzen tönt die Klage wider,

Und es ergreift mich, wirft zum Staub mich nieder,

Und meine Tränen rinnen in den Sand.


O reiner Schmerz, der in den Höhn gewittert,

Du heil'ges Weh, das durch die Tiefen zittert,

Ihr schloßt auch mir die Augen auf!

Ihr habt zu mir das Zauberwort gesprochen

Und meinen Hochmut wie ein Rohr gebrochen,

Und ungehemmt strömt meiner Tränen Lauf.


Du süßes Leid, hast ganz mich überwunden!

Welch dunkle Lust, die ich noch nie empfunden,

Ist glühend in mir angefacht!

Wie reich bist, Muttererde! du zu nennen:[20]

Ich glaubte deine Herrlichkeit zu kennen,

Nun erst schau ich in deinen tiefsten Schacht.


Da leuchtet es in düsterm Strahlenkranze,

Da funkelt es von mildem Tränenglanze,

Und tief der Wehmut Gold erglüht.

Wie flimmern da der Sehnsucht blaue Kerzen!

Und die Entsagung glänzt in harten Erzen,

Ergebung sanft in feinen Adern blüht.


Gebrochner Stolz klagt wie in Grabesklängen,

Doch Demut wacht in den geheimsten Gängen,

Als mildes Grubenlicht entbrannt.

Die oben nicht zum Leben Raum gefunden,

O was für Liebe schläft und träumt da unten,

Friert endlich ein zu hartem Diamant!


Und leise schallen hör ich ferne Tritte,

Es naht sich mir mit leichtbeschwingtem Schritte

Durch die geheim erhellte Nacht;

Weiß, wie entstiegen einem frischen Grabe,

So wandelt her ein schöner schlanker Knabe,

Einsamer Bergmann in dem stillen Schacht.


Willkommen, Tod! dir will ich mich vertrauen,

Laß mich in deine treuen Augen schauen

Zum ersten Male fest und klar!

Wie wenn man einen neuen Freund gefunden,

Kaum noch von der Verlassenheit umwunden,

So wird mein Herz der Qual und Sorge bar.


Tief schau ich dir ins Aug, das sternenklare.

Wie stehn dir gut die feuchten, schwarzen Haare,

Wie weiß ist deine kühle Hand![21]

O lege sie in meine warmen Hände,

Dein heil'ges Antlitz zu mir nieder wende –

Wohl mir! ich habe endlich dich erkannt!


Ob mir auch noch beglückte Stunden schlagen,

Ich will dich heimlich tief im Herzen tragen;

Und wo mich einst dein Gruß ereilt:

Im Blütenfeld, im schimmervollen Saale,

Auf stillem Bett, im schlachterfüllten Tale,

Ich folge dir getrost und unverweilt!


So wachet auf, ihr hellen Morgenlieder!

Ich aber leg mir um die Stirne wieder

Des Stolzes unfruchtbaren Kranz.

Der Welt mit Weltsinn nun entgegen gehen

Will ich; doch innen blüht mir ungesehen

Der Todesdemut still verborgner Glanz!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 19-22.
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