An Uz

[160] Laß meinen schlichten Vers Dir sagen, was

Ein langes Jahr die träge Prose Dir

Nicht sagen mochte, väterlicher Greis,

Wie sehr mein ganzes Herz, als ich Dich sah,

An Deinem Anblick hing, an Deiner Brust,

Auf Deiner zarten Lippe ruhte, wie

Dein sanftes Feuerauge zu mir sprach,[160]

Als hätt' ich lange, lange Dich gekannt,

Als sprächest Du aus Deiner Seele mir

Die Worte meiner Seele. Wenn der Himmel

Den treuen Wunsch erhört – und ach, es hört

Der uns Durchdringende, Allgütige,

Er höret ihn gewiß und liebt und schenkt

Mehr, als wir wünschen – o, so müsse Dir

Der Abend Deiner Tage lieblich sein

Und still-erquickend wie die schönste Abendröthe,

Bei der ein Engel je mit Frommen von

Der ew'gen Ruhe süßen Kränzen sprach.


Lies dieses Buch, und wenn Dich hie und da

Ein Wink, ein Ahnen, ein Gedanke labt,

So freu' ich mich, unsichtbar bei Dir weilend,

Als über meinen Lohn und küsse Dich

Als Sohn und Bruder. Lebe, lebe wohl!

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 160-161.
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