Die Stimme zur Mitternacht

[508] 1773.


»Wachet, wachet!« ruft die Stimme

Der Wächter auf des Tempels Zinne;

»Wach auf, Du Stadt Jerusalem!«

Mitternacht heißt diese Stunde;

Sie rufen uns mit hellem Munde:

»Wo seid Ihr klugen Jungfrauen?

Steht auf! der Bräut'gam kommt.

Auf! Eure Lampen nehmt,

Hosianna!

Macht Euch bereit

Zur Freudenzeit!

Ihr müsset ihm entgegengehn!«


»Ach, wir schlummern All' und schlafen!

Der Hirte schlummert mit den Schafen;

Die Lamp' ist da! wo ist das Licht?

Wie es war in Noah Tagen,

Sie aßen, tranken, fern von Plagen,

Von Strafen fern, und dachten's nicht;

Wir frei'n und lassen frei'n;

Die Sorge wiegt uns ein,

Wurmessorge!«

»Erwacht! Erwacht!

In Mitternacht

Ein Blitz soll seine Ankunft sein!«
[508]

Falsche Christus und Verräther,

Vernunft-Verführer, Wunderthäter

Der Lüge sind das Licht der Welt.

Meinst Du, daß der Richter werde

Noch Glauben finden auf der Erde,

Wenn Wollust sie in Fesseln hält?

Ihr Hügel, fallet, fallt!

Der Menschen Herz ist kalt,

Kalt die Liebe!

Voll Heuchelei-

Abgötterei,

Sieh, ob nicht Alles, Alles sei!


Schlangen sind der Völker Kronen,

Und Nationen Nationen

Zur Geißel statt der Bruderhand;

Mütter, Töchter, Söhne, Väter

In einem Hause sind Verräther,

Zerreißen Blut- und Herzensband!

Wo meinet Freund und Freund

Sich bieder? wo vereint

Pflicht die Herzen?

Pflicht und Gebet

An heil'ger Stätt',

Das ewiglich bei Gott besteht.


Ach, wie schlummern All' und schlafen!

Der Hirte schlummert mit den Schafen;

Die Lamp' ist da! wo ist das Licht?

Mit den Trunknen schläfrigtrunken,

In Nacht und Wahn und Graus versunken,

Ach, sehen wir und hören nicht!

Wer trägt nicht Thieres Bild?

Wer, dem das Herz nicht füllt

Erdensorge?

Ist Mitternacht!

Erwacht, erwacht!

Blitzschnell erscheint des Menschen Sohn.


Meinst Du, wenn der Hausherr wüßte,

Zu welcher Stund' er wachen müßte,

Er pflegen würde träger Ruh?

Sieh, und alle Frommen zagen,

Verschmachten unter stillen Plagen, –[509]

Und Alle sehn wir trunken zu?

Im Feigenbaume steigt

Der Saft schon! Knospe zeigt

Frühlingszeiten!

Hebt Euer Haupt!

Umlaubt, umlaubt

Mit Frühling ist, wer an ihn glaubt.


Trunkne Knechte, sieh! sie schlagen

Die Brüder Mitknecht', höhnen, plagen,

Statt Labung, sie mit Drang und Spott.

Meinst Du, daß der König werde

Noch Knechte finden auf der Erde?

Wer ist sich selbst nicht Herr und Gott?

»Er kommt noch lange nicht!

Vielleicht kommt gar er nicht!

Er kommt gar nicht!

Was Alle thun,

Will ich auch thun

Und träumen, prassen, plagen, ruhn!«


Herr, wer wird vor Dir bestehen!

Wer vor Dein Angesicht zu gehen

Erkühnen, wenn die Erd' entflieht!

Ach, ein Strohhalm in die Flammen

Ist all mein Tagewerk zusammen,

Wenn's Liebe aus der Gluth nicht zieht!

Erlöser, stehe bei!

Erneuer, mach uns neu,

Betend, brünstig,

In Mitternacht,

Wenn nichts mehr wacht!

Wir schlummern, unser Herze wacht!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 508-510.
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