Zur Feier der Beziehung des neuen Gerichtshauses zu Riga

[254] den 11. October 1765.


O Vaterland! dem Ohr des Patrioten

Ein Silberton, ein Ton des Ruhms dem Geist,

Der, hundert andrer werth, sich von lebend'gen Todten

Hinauf ins Heil'ge der Verdienste reißt;[254]

Wo Die wie Erdengötter glänzen,

Die Dir, o Vaterland, sich weihn

Und sich mit Lorbeerkränzen

Aus Deinen Händen freun!


Für Dich, o Theure, geht der Held zum Streite

Wie zum Triumph und lockt sein goldnes Haar;

Der Jüngling glüht ins Feld und giebt aus seiner Seite

Sein bestes Herzensblut Dir jauchzend dar;

Und sterbend labst Du seine Ohren;

Schon brechend, lallt der Zunge Band:

»Dir, das Du mich geboren,

Dir sterb' ich, Vaterland!«


Ja, Vaterland! Du Mutter, der der Weise

Die Erstgeburt des Geists zum Opfer bringt;

O Du, sein Sonnenflug, wenn er zum hohen Preise

Der Tugend Dich mit edlen Thaten singt;

Dich, die mit goldnen Liebesseilen

Der Söhne Herzen an sich zieht

Und, wie mit Sonnenpfeilen,

Mit Ruhme sie durchglüht!


Dir, Göttin, Dir, der Freiheit süßer Namen,

Für den der Held den Tod als Freund umfaßt,

Dir sä't der Menschenfreund, der Bürger stillen Samen,

Und kann er nichts – so trägt er Deine Last.

Dir weihn die Götter auf dem Throne,

Der Handel und die Künste weihn

Zu Deiner Siegeskrone

Den besten Edelstein.


Dein sind die Schulen! Deine zarten Söhne

Erziehn sie Dir; damit Dein Hoffnungsreis

Mit Blüthe Dich, mit Frucht, mit Schatten kröne,

So trinkt sein junger Keim erst theuren Schweiß.

Dir blühn die Tempel; denn sie weihen

Den Bürger Dir zum Christen ein;

Der Weihrauch, den sie streuen,

O Vaterland, ist Dein!


Dein ist dies Haus in Katharinens Schatten,

Das sie Dir selbst voll Majestät geweiht!

So lang' sich Rußlands Adlerhäupter gatten,

So lange blüht hier Recht und Billigkeit;[255]

Die Unschuld flieht zu diesen Schranken,

Zurücke wird sie lächelnd gehn;

Und Thränen werden danken,

So lang' hier Pfeiler stehn.


Ich seh', Asträa steigt vom Himmel nieder,

Mit Palmen, Oel und Lorbeer neu bekränzt,

Vor ihr der Wahrheit Schild, nach ihr der Engel Lieder.

Wie flammt ihr Schild! Seht, wie ihr Antlitz glänzt!

Es sinken ihrer Wage Schalen;

Sie streiten; keine überwiegt:

Hier wirft die Weisheit Strahlen,

Wie dort die Treue siegt.


Ich seh', ich seh'! Sie schreibt mit ew'gen Zügen

Hier das Gesetz und dort des Handels Glück

An beide Pfeiler, schreibt hier Ruhe, dort Vergnügen,

Hier Rußlands Huld und dort der Sonne Blick.

O kommt, die unsre Freude loben,

Und schreibt mit patriot'scher Hand,

Als Krone, mitten oben:

»Gott und dem Vaterland!«


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 254-256.
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