Die Giftmischerin

[318] Dies hier der Block und dorten klafft die Gruft.

Laßt einmal noch mich atmen diese Luft,

Und meine Leichenrede selber halten.

Was schauet ihr mich an so grausenvoll?

Ich führte Krieg, wie jeder tut und soll,

Gen feindliche Gewalten.

Ich tat nur eben, was ihr alle tut,

Nur besser; drum, begehret ihr mein Blut,

So tut ihr gut.


Es sinnt Gewalt und List nur dies Geschlecht;

Was will, was soll, was heißet denn das Recht?

Hast du die Macht, du hast das Recht auf Erden.

Selbstsüchtig schuf der Stärkre das Gesetz,

Ein Schlächterbeil zugleich und Fangenetz

Für Schwächere zu werden.

Der Herrschaft Zauber aber ist das Geld:

Ich weiß mir Beßres nichts auf dieser Welt,

Als Gift und Geld.


Ich habe mich aus tiefer Schmach entrafft,

Vor Kindermärchen Ruhe mir geschafft,

Die Schrecken vor Gespenstern überwunden.

Das Gift erschleicht im Dunkeln Geld und Macht,

Ich hab es zum Genossen mir erdacht,

Und hab es gut befunden.

Hinunter stieß ich in das Schattenreich

Mann, Brüder, Vater, und ich ward zugleich

Geehrt und reich.


Drei Kinder waren annoch mir zur Last,

Drei Kinder meines Leibes; mir verhaßt,

Erschwerten sie mein Ziel mir zu erreichen.

Ich habe sie vergiftet, sie gesehn,

Zu mir um Hülfe rufend, untergehn,

Bald stumme, kalte Leichen.

Ich hielt die Leichen lang auf meinem Schoß,

Und schien mir, sie betrachtend tränenlos,

Erst stark und groß.
[318]

Nun frönt ich sicher heimlichem Genuß,

Mein Gift verwahrte mich vor Überdruß

Und ließ die Zeugen nach der Tat verschwinden.

Daß Lust am Gift, am Morden ich gewann,

Wer, was ich tat, erwägt und fassen kann,

Der wird's begreiflich finden.

Ich teilte Gift wie milde Spenden aus,

Und weilte lüstern Auges, wo im Haus

Der Tod hielt Schmaus.


Ich habe mich zu sicher nur geglaubt,

Und büß es billig mit dem eignen Haupt,

Daß ich der Vorsicht einmal mich begeben.

Den Fehl, den einen Fehl bereu ich nur,

Und gäbe, zu vertilgen dessen Spur,

Wie viele eurer Leben!

Du, schlachte mich nun ab, es muß ja sein.

Ich blicke starr und fest vom Rabenstein

Ins Nichts hinein.


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 318-319.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe letzter Hand)
Gedichte Und Versgeschichten
Peter Schlemihls wundersame Geschichte und ausgewählte Gedichte.
Chamissos Werke: Erster Teil: Gedichte
Gedichte: Ausgabe letzter Hand
Hundert Gedichte

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Rameaus Neffe

Rameaus Neffe

In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon