Die heilige Elisabeth

[47] 1879.


O du Nacht, der Seele finstere Nacht,

Du endlos tiefe Schmerzensnacht,

Hier lieg ich, blutig den Leib benetzt,

Den die Geißel in rothe Wunden zerfetzt.


O du Nacht, der Seele finstere Nacht,

Wie flieh' ich vor dir, qualvolle Nacht?

Wo bliebst du, mein sonnenleuchtender Tag,

Mit Rosenblüthen und Drosselschlag?


Maria, du Königin – süßes Licht,

Ich schaue und höre – ich finde dich nicht!

Wie hab' ich sonst deine Hände geküßt,

Deine Lippen gestreift in sel'gem Gelüst.


Wie hab' ich die Welt inbrünstig gehegt,

Wie die Sonne in Liebe die Blumen pflegt,

Die Pest lag sterbend in meinem Schooß,

Ich küßte die Kranken vom Tode los.


Des Armen Kind lag an meiner Brust,

Und trank die süße heimliche Lust,

Des Juden verachtete Tochter umschlang

Mein Arm, und ich küßte sie heiß und lang.
[47]

Zu meinen Füßen die Sünderin

Lag weinend und warf ihre Schätze hin –

So schlecht war Niemand, verworfen nicht,

In tiefer Nacht sah ich himmlisches Licht.


Und durch die Wetter sah ich es glüh'n,

Rings sah ich die Himmel leuchtend erblüh'n,

Und betend lag ich in göttlicher Ruh'

Und stammelte selig: »Die Liebe bist du«!


O du Nacht, der Seele finstere Nacht,

Du endlos tiefe Schmerzensnacht, –

Konrad von Marburg, dein finst'res Wort

Scheuchte die Himmel, die Liebe mir fort.


Bedeckt den Leib mit blutigem Thau,

Das Haupt bestreut mit der Asche Grau,

Lieg' ich und weiß ich von Liebe nichts,

Ich weiß, nur den Tag des jüngsten Gerichts.


Ich weiß, die Sünde schläft und schlief

Im blauen Kinderauge tief;

Wo die Krankheit den Leib mit Narben schlug,

Ich weiß, es ist der Sünde Fluch.


Ich weiß, die Sünde faßte uns an,

Wo der goldne Wein im Becher rann,

Der Hölle Nebel die Sinne umfloß,

Wo der Mann das Weib in Liebe umschloß.


Ich weiß nur, wie elend das Dasein ist,

Das Glück, die Lust eine höllische List,

Ach, Sünde ist ein holdes Gesicht,

Der Lerchen Sang und der Sonnen Licht.


Durch die Nacht, durch die Nacht ich höre den Tritt,

Wie die Nacht so finster des Finsteren Schritt, – –

O Geißel – o Buße – o Höllenglut!

Sühnt auch diese Gedanken mein tropfendes Blut?

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 47-48.
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