Pythagoras

[82] Gebreitet liegt auf Berg und Auen

Das schattende Gewand der Nacht,

Auf alle Augen niederthauen

Des Traumes Bilder, süß und sacht;

Nur mich allein will's nicht umschlingen,

Dies selige Sinken in das Nichts:

Ich will erkennen, will erringen,

Erringen einen Strahl des Lichts.


Durchforscht umsonst hab' ich die Rollen,

Die uns der Väter Weisheit schrieb,

Umsonst gesucht im Lieben, Grollen

Des Menschenherzens tiefsten Trieb,

Umsonst Natur und ihrem Sprossen

Bin ich gefolgt mit Stab und Maß, –

Die Thür zum Räthsel blieb verschlossen,

Und wirre Schrift war, was ich las.
[82]

Und was ich jung mit kecken Sinnen,

Mit meinem Herzen, stolz und heiß,

Im Fluge dachte zu gewinnen,

Ich fand's nicht und mein Haar ist weiß,

Nicht lang' mehr wird der Faden währen,

Den hastig mir die Moira webt, –

Nun lausch' ich ängstlich nach den Sphären,

Doch ach, kein Ton, der niederschwebt.


Und doch, es muß! Ich darf nicht irren!

Dies Treiben, dieses Lebens Schwall,

Der wilde Streit, die bösen Wirren,

Des Scheines Truggespenster all',

Dies tolle Lachen, bitt're Weinen,

Dies Glück, das falsch die Loose theilt:

Es muß zu einem Klang sich einen

Dort oben, wo mein Sehnen weilt.


Zu einem Klange, voll und prächtig,

Der hell den Himmelsraum durchdringt,

Und alles Ungefüge mächtig

In seinen hohen Zauber zwingt,

Zu einem Klang, der Alles kündet,

Was hier der müde Geist verlor,

D'rin Rauh und Lieblich sich verbündet,

Zu füllen das entzückte Ohr.


Dort oben! Seit mir die Gedanken

Zum ersten Mal im Hirn gereift,

Ließ ich hinan die Hoffnung ranken

Zum Sternenchor, der oben schweift;

Von oben sollt' es niedertönen,

Mein unbefriedigt Herz durchglüh'n,

Und mir im Strahl des ewig Schönen

Der Erde Leben neu erblüh'n.


Was ich geliebt, ich hab's vergessen,

Was ich begehrt, ich ließ es lang',

Nur Sehnsucht füllt mich unermessen

Nach diesem einen hohen Klang,[83]

Vorüber lass' ich alles rauschen,

Ein Wunsch allein, der in mir wohnt –

O, einmal hören, einmal lauschen,

Und all mein Streben wär' gelohnt!


Umsonst, umsonst. Die Sphären schweigen,

Mein Aug' wird matt, mein Ohr wird stumpf,

Fremd schau' ich auf der Erde Reigen,

Der sinnlos mich umdrängt und dumpf.

Wie leer die Stunden hin sich dehnen!

Du böse, Moira, meine Last;

Von meinem Denken, meinem Sehnen

Gieb in der Urne süße Rast!

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 82-84.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Wolken. (Nephelai)

Die Wolken. (Nephelai)

Aristophanes hielt die Wolken für sein gelungenstes Werk und war entsprechend enttäuscht als sie bei den Dionysien des Jahres 423 v. Chr. nur den dritten Platz belegten. Ein Spottstück auf das damals neumodische, vermeintliche Wissen derer, die »die schlechtere Sache zur besseren« machen.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon